Ein gotisches Kirchenfenster schaut mich an, schaut mich an im wahrsten Sinne des Wortes. Es hat Augen, an die hundert Augen, deren Pupillen in den Schnörkeln des Maßwerks sitzen, in verschiedener Größe. Zwei aber sind besonders groß und machen das gotische Fenster zum Gesicht. Diese zwei großen Augen formen einen Blick, der prüfend auf mich gerichtet ist. Dieser Blick ist ernst, streng und geht mir durch und durch. Es ist der bohrende Blick des Wissenden, er spürt alle Gedanken in mir auf, auch jene, die ich nicht ans Licht geholt sehen möchte. Da helfen auch keine Ablenkungsmanöver, keine Grimassen. Es hilft nichts, wenn ich schiele und mit den kleinen Fingern meinen Mund auseinander ziehe und dabei mit den Zeige- und Mittelfingern die Unterlider der Augen herunterziehe bis es weh tut. Es hilft auch nichts, dass ich aus meiner Erinnerung alle Motive des Vorhangs meines Kinderzimmers nachgemalt habe. Herz, Schaf, Haus, Huhn und Ei, Katze, Hund, Baum und so fort. Die Augen sind unerbittlich, sie sind das Gericht über mich, sie sind allwissend, vor ihnen gibt es kein Entkommen. Doch halt, da ist noch jemand. Jemand legt seine Hand auf meinen Kopf und zieht mit den Fingern meine Augenbrauen hoch und mit den Fingern der anderen Hand zerrt er an meiner Wange. Und plötzlich bin ich Teil dieses Rätselbildes, ein Wicht, ein kleiner Wicht, gestraft und zur Rechenschaft gezogen. Ich bin Teil des Bildes, das ich betrachte, und das mich betrachtet.
Und ich denke, so etwas vermag nur die Malerei.