Eröffnungsrede „Tunnelblick“ von Christian Ude, Alt-Oberbürgermeister München

Meine Damen und Herren,

ich kann Ihnen aus stattlicher Erfahrung sagen: das ist schon etwas besonderes, wenn an einem Samstag Nachmittag anlässlich der Eröffnung einer Kunst im öffentlichen Raum derart viele Menschen aus dem Stadtteil und der ganzen Stadt zusammenkommen, das muss besondere Umstände haben. (…)

Es geht heute, wenn ich es richtig weiß, um die größte, zumindest längste Wandmalerei in unserer Stadt. Eine durch Wandmalerei gekennzeichnete, wirklich kunstgerecht und detailgenau geführte Malerei mit dem Pinsel, mit Mischtechniken, aber nicht schnell hingesprüht, wie es bei durchaus auch beachtlichen Graffiti-Werken typisch wäre.

Aber wir wollen über das reden, was es hier tatsächlich gibt, nämlich ein riesengroßes, im wahrsten Sinne des Wortes breit-angelegtes Kunstwerk. Weil ich mit meiner Frau schon zwei Bücher über die Wandmalerei der Gegenwart gemacht habe, kann ich mir einen kleinen Exkurs nicht verkneifen. Wandmalerei im öffentlichen Raum, ganz gezielt im öffentlichen Raum, ist ein Kind des 20.Jahrhunderts. Und das in drei Wellen: Die erste Welle war auf Südamerika beschränkt.

Da war es mit einem großen politischen Anspruch: Revolutionsmalerei. Mit den „Tres Grandes“, den drei großen dieser Kunstrichtung. In der Universität von Mexiko ist das heute noch zu besichtigen: 10, 12 Stockwerke hoch; Malerei mit volkstümlichen Motiven, damit die Kunst vom Volk verstanden wird. Es war eine Kunst, die sich ganz bewusst an sämtliche Teile der Bevölkerung richten wollte, nicht nur an die Gebildeten, nicht nur an die Geschulten, die dafür auch eigens ins Museum gehen, sondern Kunst für alle, die von allen verstanden werden will und allen ihren Stolz geben möchte. Einen solchen politischen Anspruch hat Martin Blumöhr nicht, aber Elemente erkennen sie trotzdem: Dies ist ein Kunstwerk, dass sich wirklich an alle richtet, und ich finde es großartig, dass das heute schon bei der Eröffnungsfeier deutlich wird, wo ich viele Kinder sehe, die das einfach cool finden eine Wand voll zu malen, aber auch viele Herrschaften, ich drücke mich einmal sehr vorsichtig aus, die noch älter sind als ich. Und das heißt doch, es ist ein Kunstwerk, das Generationen vom Kind bis zum Großvater, zur Großmutter anspricht, interessiert, etwas zu sagen hat. Und der Bevölkerung Selbstbewusstsein vermittelt, Stolz auf das Viertel und nicht etwa Einschüchterung, was bei Kunst im öffentlichen Raum auch so oft geschieht. Dass man der Bevölkerung vor allem beibringt, dass sie keine Ahnung hat, wie das Kunstwerk zu verstehen wäre, wenn man es denn verstehen könnte, was aber in der Regel nicht der Fall ist. Nein hier ist Kunst für alle, und das finde ich erfreulich.

Die zweite Welle will ich auch in Erinnerung rufen, nämlich die „public works of art“, die unter Roosevelt gefördert worden sind. Ganz offen mit einem sozialen Anspruch, Künstler während der Wirtschaftskrise in Beschäftigung zu bringen, aber auch mit dem Anspruch benachteiligten Stadtviertel, die es ja in den USA reichlich gibt, eine Identifikationsmöglichkeit zu liefern. Also etwa im Viertel der Schwarzen auch schwarze Kunst, im Viertel der Puertorikaner Motive der puertorikanischen Herkunft. Das war bemerkenswert, und wir sollten kurz daran denken: Kunst sollte auch den beteiligten Künstlern eine Existenzsicherung bieten. Das hat schon Präsident Roosevelt in den zwanziger Jahren gesagt. Eine wohlhabende Stadt wie die Landeshauptstadt München sollte das bei der Beschäftigung von Künstlern zumindest im Hinterkopf haben. Aber das Motiv, dass Bevölkerung eigenen Wert erkennen kann, die eigene Geschichte, das ist, glaube ich, in diesem Kunstwerk auch wieder sehr, sehr stark vertreten. Ich werde einige Beispiele aufführen.

Und die dritte Welle kam erst sehr viel später nach 1968. Da haben Künstler erkannt, das war kein Förderprogramm, sondern ganz im Gegenteil Künstlerprotest: Wir wollen nicht nur für Kunstsammler und Galeristen malen, nicht nur für Museen, wo nur etablierte Kunstkenner hineingehen. Nein, wir wollen mit Kunst die Stadt verändern, umgestalten oder Themen auf die Tagesordnung setzen. Und das war dann nach 1968 reichlich geschehen. In London beispielsweise Kunst gegen Altbausanierung und „Gentrification“ – schon in den späten 60er Jahren – so alt ist das Thema. Oder in Berlin: Kunst gegen die widernatürliche Teilung mit einer Mauer. Oder in verschiedensten Städten Kunst gegen Atomkraftwerk. Gegen Militär, das sich aufführt wie der Rotz am Ärmel in der eigenen Region und, und, und… die Themen sind Ihnen bekannt.

Also Kunst im öffentlichen Raum hat immer auch etwas mit dem Versuch zu tun, Menschen wach zu rütteln. Es gibt daneben aber auch rein dekorative Kunst, die nur vorhandene Brandmauern, vorhandene Wandflächen gerade in Unterführungen, an öden Stellen lebendiger, farbiger gestalten will. Ich glaube bei Martin Blumöhr ist beides zu finden. Da steckt schon Protest drin, wenn Sie sich zum Beispiel die Kommerz-Welt in roter Farbe näher ansehen – da soll nicht unweit hier ein namhaftes Beispiel vorhanden sein, unter den Arkaden. Die Auseinandersetzung mit der Kommerz-Welt ist nicht vordergründig politisch, aber durchaus gesellschaftskritisch, was hier alles an Abrichtung zur Konsumfreude stattfindet. Und andere Elemente sind wirklich dekorativer Natur, um eine scheußliche Unterführung, wie es gerade im Blues geheißen hat, ansprechend zu gestalten.

Ich glaube also, dass Martin Blumöhr wirklich von allen Quellen der Wandmalerei im 20. Jahrhundert gelernt hat, Motive übernommen hat, aber keiner Schule zuzuordnen ist, sondern eine ganz eigenständige Handschrift entwickelt hat. Bei der gemeinsamen Besichtigung der Arbeit habe ich etwas interessantes erlebt, was ich nur mit ihm zusammen erleben konnte. Nämlich dass wirklich ungelogen jeder Radfahrer, jede Fußgängerin und jeder Fußgänger stehen bleibt, absteigt, sagt wie schön er entweder das (Pasinger) Knie, oder die Blutenburg, oder die Pasinger Fabrik gefunden hat. Dass er sich bedanken will, dass dieses oder jenes Motiv auch noch aufgegriffen worden ist: dass in dieser Weise ein Stück Kunst im öffentlichen Raum im Dialog mit den künftigen Nutzern der Unterführung gemeinsam entwickelt wird, habe ich noch nie erlebt, mehr noch, ich habe es mir nicht einmal vorstellen können. Zu diesem Dialog wirklich herzlichen Glück­wunsch!

Und was ist er jetzt? Sie werden auch selbst erleben, dass das wahnsinnig schwer, das zu Hause oder Ihrer Freundin oder Ihrem Kollegen zu erklären. Denn er ist unheimlich vielfältig, obwohl es doch eine eindeutige, auf den ersten Blick erkennbare Formsprache gibt.

Aber er ist ein Mythologe und Symbolist, der die Würm mit Augenlicht ausstattet.

Er ist ein Historienmaler, der Adelshochzeiten auf der Blutenburg detailverliebt wiedergibt.

Er ist ein Stadtteilforscher und Spurensucher, der jedes Detail noch wissen will. Wie die Pasinger Fabrik früher ausgesehen hat und wie sie heute aussieht, oder wie die ersten Lokomotiven in der Eisenbahnerstadt Pasing genau ausgesehen haben.

Und er ist ein farbenfroher Künstler, der aber nie bunt wird. Ich finde beachtlich, wie die einzelnen Passagen immer stimmige Farben haben. Auf die ganze Länge kommen fast alle Farben, aber niemals ist es buntscheckig, sondern es gibt eben ein blaues Altstadtviertel, eine rote Arkadenwelt, es gibt eine grüne Naturwelt mit der Würm. Es sind immer sehr streng farblich gestaltete Einzelabschnitte, die in der Summe aber eine enorme farbige Kraft und Vielfalt aufweisen. Und jetzt vergnügen sie sich mit den verschiedenen Aspekten des Kunstwerks.

Wirklich Historienmalerei bei der Blutenburg, bissige Karikatur bei den Arkaden, respektvolle gegenständliche Malerei bei der Pasinger Fabrik, Bild gewordener Wortwitz, auch das kommt vor, wenn sie sich die Straßenbahn anschauen, wie sie am Knie, im wahrsten Sinne des Wortes am Knie des Pasingers um die Ecke biegt – da ist ein Wortwitz zum Bild geworden. Genauso, wie in den Bäumen Märchenmotive plötzlich Realität werden. Dieses Spiel auf verschiedenen Ebenen ist nie banal, weil man nur drei Meter weiter muss, um eine völlig andere Sichtweise zu sehen. Mal gegenständlich, mal symbolisch, mal analytisch, mal nur erzählend: er ist ein großer Geschichtenerzähler. Alle Geschichten, die ihm hier in die Ohren geblasen wurden, hat er dann an die Wand gemalt, aber das ergibt insgesamt ein Kunstwerk, und jetzt sage ich was die Pasinger hören wollen: ganz München kann Euch um diese Unterführung nur respektvoll beneiden.

Eröffnungsrede von „Tunnelblick“. Christian Ude, Alt-Oberbürgermeister München