Dr. Britta Rambeck zu Randbreite

Randbreite

(…) Zunächst hat Blumöhr den großen kompositorischen Rahmen geschaffen: Tiermenschen sitzen rechts unten auf grauer Mauer, starren nach draußen oder in ein Smartphone: eine Bilderbuchvision, in klassischer Schraffurtechnik monochrom ausgeführt. Formal und inhaltlich bietet er einen spannungsreichen Gegenpol zum später vielgestaltigen und -farbigen Kernmotiv: einem Baum, der raumfüllend im Himmelsblau schwebt, emporstrebend aus einem ebenfalls gänzlich erdentbundenen Wurzelwerk, das von unzähligen Menschen gleichsam durchschwommen zu sein scheint.

(…) Der Umriss der zunächst noch leeren Baumkrone sollte sich dann rasch in freier Malerei mit den „Gedankenskulpturen“ füllen, die Martin Blumöhr im Gepräch mit dem Publikum nach und nach gewinnen konnte. Die zum Teil comichafte Formgebung, die wir bereits aus dem Tunnel kennen und die Blumöhr als die ideale „Erzählform durch Bilder“ definiert, findet nun auch hier wieder Verwendung, allerdings unter Einbeziehung der Schraffurtechnik, die schon bei den Rahmenmotiven zum Einsatz kam. Die durchgängige Dominanz des Gelbtons sorgt für einen insgesamt lichten, ruhigen Gesamteindruck bei aller Farbvielfalt, die ihrerseits sehr bewusst, um nicht zu sagen „akademisch“ gewichtet und angeordnet ist.

(…) Noch ein Hinweis auf Blumöhrs geradezu kulinarisches Vergnügen an Sprache, an Wortfindungen: Gedankenskulpturen nennt er die „Kopfgeburten“, die Imaginationen, Hirngespinste, Traumgestalten, Angst- und Wunschvorstellungen, die ihm von all seinen großen und kleinen Stichwortgebern übermittelt wurden, um sie dann seinerseits malerisch umzusetzen. An diesem Punkt nun wird der große Unterschied zum Projekt Tunnelblick deutlich: dort ging es um die realistische Vorstellung und daraufhin bildnerische Darstellung von wirklichen Personen und ihren Geschichten. Bei der Arbeit an „Randbreite“ handelte es sich hingegen um das Aufspüren und Mitteilen meist unbewusster Seelenzustände,Träume und Visionen bei den Befragten und ihre anschließende Sichtbarmachung durch den Künstler im Werk.

(…) Zwei bis 83 Jahre alt waren die Gesprächspartner, die ihre heiteren, skurrilen oder auch düsteren Fantasien zur Verfügung stellten.

(…) Ambivalenz schwebt über dem gesamten Puzzle aus Fantasie, Wunsch- und Albtraum. Eine schwierige innere Auseinandersetzung bedeutete für Blumöhr selbst etwa die Arbeit an dem Menschengewimmel im Wurzelwerk –ich zitiere hier einen Kommentar von ihm selbst: „ Für mich hat das Erleben von einer solchen Fülle an Menschen etwas beinahe physisch Schmerzhaftes. Menschenmengen können doch eine Kraft entfalten, die sowohl für die marktschreierische, quirlende Essenz des Lebens, fast bis hin zur Überdosis, steht. Und gleichzeitig die Einsamkeit auf den menschlichen Reisen spürbar machen.

Über die Serien

(…) Beispiele aus den vier derzeit wichtigsten Werkserien des Künstlers sind dort zusammengefasst: „Facial Digital“ nennt er leuchtend vielfarbige und formal streng strukturierte Bilder, die ihren Ursprung in den uns allen bekannten Bildschirmstörungen auf dem Fernsehschirm haben. Anke Doberauer kreierte dafür den Begriff des „digitalen Realismus“.

(…) Als surrealistisch anmutende Verrätselungen seelischer Innenbilder könnte man die Bilder der zweiten Reihe mit dem Titel „Graphiti“ bezeichnen. Graphiti – wohlgemerkt mit ph geschrieben – spielt auf die Technik (die Zeichnung) und das verwendete Material – überwiegend Bleistift und Tusche – an. Dabei hinterfragt Blumöhr die Sujets junger Malweisen wie der Streetart, des Graffiti (in diesem Fall mit Doppel-f) und der Tattookunst. Deren oftmals aggressive Aufladung durch knallige Farbigkeit reduziert er allerdings bis hin ins Monochrome, nutzt jedoch ihre gestisch übersteigerten Formskelette und verdichtet sie in neuen Bildkompositionen.

(…) Abstand von formaler Perfektion und Wirklichkeitsnähe signalisieren dann die Bilder der dritten und vierten Serie mit den Titeln „Destrukturen“ bzw. „Destruktionenen“, deren Prinzip darin besteht, die beim Zeichnen bzw. Malen entstehenden Gestalten gleichzeitig zu erschaffen und zu zerstören, sich Formendes im Entstehen zurückzunehmen und dabei Figurationen, die sich gewissermaßen „unter der Hand“ entwickeln möchten, sofort wieder aufzulösen.

(…) Mit den eher graphischen Bilderserien schließt sich der Kreis erkennbar wieder zu Blumöhrs Wandmalereien. Die Palette seiner Möglicheiten – auch jenseits der „Murals“ – ist bunt und breit gefächert. Vielseitigkeit hat sich Martin Blumöhr zum Prinzip genommen.

(…) Ich zitiere abschießend aus einem Interview mit Martin Blumöhr:
Der Frager: „Haben Sie einen bevorzugten Stil?“
Anwort Blumöhr: „Ja, meinen.“
Der Frager: „Wie leicht oder schwer ist es, von einem zum nächsten Stil zu „switchen“?“
Antwort Blumöhr: „Ich „switche“ nicht von einem Stil zum anderen, ich versuche nur, den Raum meiner Ausdrucksmöglichkeiten so unbegrenzt wie möglich zu halten – in meinem Stil. Das entsteht auch aus dem Aufbegehren gegen das gängige Weltbild eines Malers, der eine Art zu malen findet und diese dann bis ins Grab pinselt… Ich versuche immer auf meine innere Stimme zu hören, diese bestimmt die Herangehensweise.“

(…) Das heißt: Die Handschrift bleibt immer die seine, auch wenn der Künstler gleichzeitig kontinuierlich an mehreren, denkbar unterschiedlichen Serien arbeitet. Ob Ölbilder, Graphiti (mit ph) oder Wandmalereien: immer haben wir ein genuines Werk des Künstlers Martin Blumöhr vor uns.

aus der Einweihungsrede „Randbreite“ von Dr. Britta Rambeck